«Ich bin doch nur eine Person … denken 7,8 Milliarden Menschen»

In January 2024, I was interviewed by SZU about care for future generations. You can read the full interview here.




“Im Interview spricht Nora Wilhelm, Mitbegründerin der Initiative «collaboratio helvetica» über die Bedeutung von Sorgfalt gegenüber zukünftigen Generationen.

Als soziale Unternehmerin setzt sich die 30-Jährige für die Nachhaltigkeitsziele der Agenda 2030 der Vereinten Nationen ein.

Was bedeutet für dich als Millennial, verlässlich und sorgfältig zu sein?

Dass ich das tue, was ich sage und dies auch mit einer gewissen Konstanz. Dabei ist mir wichtig, dass ich sorgfältig agiere und respektvoll mit meinen Mitmenschen und der Umwelt umgehe. Ich möchte mich stets weiterentwickeln und mein Leben mehr in Einklang mit meinen Werten bringen. Zum Beispiel, indem ich versuche, nachhaltiger zu leben. Denn für mich bedeutet Sorgfalt, dass ich auch Akteure beachte, die gerade nicht präsent sind und dass ich gewissenhaft und vorausschauend überlege, wie sich meine aktuellen Handlungen langfristig auf sie und ihre Bedürfnisse auswirken. Hierbei kann es sich um die Natur handeln, um Menschen, die in anderen Ländern leben, sowie auch um zukünftige Generationen.

Die Agenda 2030 möchte Generationengerechtigkeit schaffen. Warum tun wir uns schwer, unserer Sorgfaltspflicht nachzukommen?

Wir sind gut darin, Zusammenhänge zu erkennen, wenn die Effekte unseres Tuns sofort ersichtlich sind. Schwierig wird es jedoch, wenn die Folgen unserer Entscheidungen zeitlich verzögert auftreten, diffus oder unsichtbar sind. Kritisch ist auch, wenn sich unser Handeln geografisch weit entfernt auswirkt. Packen wir eine Herausforderung an, sind wir zudem zu oft in linearer Denkweise gefangen und begrenzen uns auf die Symptombekämpfung. Wir müssen lernen, systemisch zu denken, die Grundursachen der komplexen gesellschaftlichen Herausforderungen unserer Zeit anzugehen und durch neue Formen der Zusammenarbeit ganzheitliche Lösungen zu finden. Hierzu muss auch hinterfragt werden, welche Denkweisen sich hinter bestimmten Handlungen verbergen und wie wir diese verändern sollten. Heute priorisieren wir meist die ökonomische über die ökologische und soziale Dimension der Nachhaltigkeit und entziehen uns dabei selbst den Boden, auf dem wir stehen. Erkennen wir uns aber selbst als Teil des Ökosystems, dann fühlen wir uns auch mitverantwortlich für dieses.



Wie siehst du in diesem Kontext das Thema Mobilität?

Während die Industrie nur für 23 Prozent der Treibhausgasemissionen hierzulande verantwortlich ist, liegt der Anteil des Verkehrs bei über 30 Prozent. Den grössten Teil davon macht der motorisierte Individualverkehr aus. Für ein Land mit einem vergleichsweise gut ausgebauten, bequemen und verlässlichen öffentlichen Verkehr, finde ich diese Zahlen schockierend. Auch in Städten lassen sich der Platzverlust, die Luftverschmutzung und der Lärm erkennen, die durch den Strassenverkehr verursacht werden. Dabei sind begehbare und begrünte Städte auch ein relevanter Faktor für mehr Lebensqualität. Manchmal geht es leider nicht ohne Auto, aber für derartige Fälle besitze ich nebst meinem GA ein Mobility-Abo. Vielfach ist das eigene Auto jedoch nach wie vor ein Statussymbol. Aber die jüngere Generationen scheinen sich zunehmend hiervon zu lösen. Ich hoffe, dass Alternativen wie Velos und der öffentliche Verkehr in den kommenden Jahren mehr und mehr zur Norm werden. Dafür muss Letzterer stärker gefördert und für alle zugänglich gestaltet werden.

Und was ist beim Reisen zu beachten?

Im Einklang mit den eigenen Werten zu leben, ist extrem schwierig. Vor allem, wenn das System anders funktioniert und gegenteilige Anreize setzt. Reisen ist ein gutes Beispiel hierfür. Es kann nicht sein, dass ein Flugticket einen Bruchteil von einem Bahnbillett kostet, nur weil die wahren Kosten darin nicht enthalten sind. Hier ist definitiv ein Systemwandel nötig.

Welche Alternativen siehst du momentan?

Reisen fordert uns heraus und verändert uns. Dies hängt aber weniger mit dem konkreten Reiseziel zusammen, sondern vielmehr mit unserer Art zu reisen und der Fähigkeit, im Moment zu leben. Um Fernweh zu stillen, ist Fliegen nicht unbedingt notwendig. Celia Hug, Autorin sowie eine Impulsgeberin bei «collaboratio helvetica», erklärt in ihrem Schweizer Reiseführer «Suche fern. Finde nah», wie sich Fernreiseträume klimaschonend verwirklichen lassen. Sie zeigt auf, dass Naturorte in der Schweiz ausgewählten Fernreisedestinationen verblüffend ähnlich sind. So macht sie Lust auf umweltfreundliches Reisen und nachhaltigen Tourismus. Zudem gibt es schon jetzt Arbeitgeber, die bereit sind, die Urlaubstage ihrer Mitarbeitenden zu verlängern, wenn diese für ihren Weg zum Ferienort und zurück die Bahn anstelle von einem Flugzeug nutzen.

Welche anderen Systeme sollten sich im Hinblick auf zukünftige Generationen weiterentwickeln oder verändern?

Spontan fällt mir das Bildungssystem ein. Viel funktioniert, und doch fehlt einiges, um dieses zukunftsfähig zu machen. Kommende Generationen werden andere Kompetenzen benötigen. Neben digitalen Fähigkeiten zählen dazu auch kritisches und systemisches Denken, Kooperationsfähigkeit, Empathie und Selbstkenntnis. In einem Zeitalter, in dem Informationen nicht nur leicht zugänglich sind, sondern uns sogar überfluten und teils ‹fake news› enthalten, müssen wir uns weniger darin üben, chronologische Daten auswendig zu lernen, sondern vermehrt darin, wie wir in der ‹modernen› Welt funktionieren können. Wir müssen verstehen, wie unsere Entscheidungen unsere Umwelt und Mitmenschen beeinflussen. Wir sollten üben, wie wir mit anderen Menschen  mit unterschiedlichem Background kooperieren können, um Herausforderungen zu lösen. Und etwa auch, wie wir uns nicht ständig vom Handy oder von strategisch platzierter Werbung ablenken lassen und stattdessen auf das fokussieren können, was uns eigentlich wichtig ist.



Und wie lassen sich diese Kompetenzen vermitteln?

Dies erfordert zum Teil auch eine andere Lernkultur. Nils Landolt, Gründer der Stiftung Schulwandel und ein weiterer Impulsgeber von «collaboratio helvetica», zeigt etwa anhand des von ihm und seiner Frau gegründeten LernHaus Sole in Glarus, wie selbstbestimmtes, spielerisches und angewandtes Lernen funktionieren kann. Auf über 300 Quadratmetern können seine Schülerinnen und Schüler in speziellen Erlebnisräumen wie Werkstatt, Mal- und Nähatelier, Forscher-, Lese- sowie Spielezimmer ihre Fähigkeiten entdecken, Problemlösungskompetenzen entwickeln und ihre Kreativität entfalten.



Aber wie kann ich als Individuum sorgfältig agieren, wenn die Herausforderungen derart komplex sind?

Um unsere Gesellschaft zukunftsfähig zu gestalten, brauchen wir einen Systemwandel auf zahlreichen Ebenen. Und ich würde jede und jeden ermutigen, dazu etwas beizutragen. Zudem können wir als Individuen – Schritt für Schritt und innerhalb unserer Möglichkeiten – zunehmend unseren Mitmenschen, der Natur und den zukünftigen Generationen Sorge tragen. Unsere Werte müssen in Einklang mit unserem Handeln gelangen. Wenn Hoffnungslosigkeit droht, erinnere ich mich oft an den Satz: «Ich bin doch nur eine Person … denken 7,8 Milliarden Menschen». Jeder Beitrag ist wertvoll. Mit jeder Entscheidung – etwa wie ich abstimme, was ich kaufe oder wie ich mit meinen Nachbarn umgehe – stimme ich für die Zukunft, die ich mir wünsche.


Nora Wilhelm

Nora Wilhelm (*1993) ist Mitbegründerin der Initiative «collaboratio helvetica», die seit 2017 kollaborative Innovationsprozesse fördert, um die Agenda 2030 in der Schweiz voranzubringen. Die Aargauerin ist in Genf aufgewachsen und hat an der HSG in St. Gallen Internationale Beziehungen sowie Soziale Innovation an der Universität Cambridge studiert. 2017 wurde sie von der UNESCO als Young Leader ausgezeichnet und 2020 war sie Teil der «30 unter 30»-Liste von Forbes. 2023 gründete sie «the well • change atelier», um mit kreativen Methoden das Wohlbefinden und die Resilienz von Changemakern zu fördern.

Nora Wilhelm

Nora Wilhelm is a systems change advocate, researcher and artist dedicated to paradigm shifts for a more just and regenerative future. She has been on a quest to make change work since her teens, and eventually hit a wall when her body couldn't cope anymore. She was diagnosed with burn-out, and realised she had to unlearn putting herself at the end of her own to do list. In addition to her systems change work and support for (aspiring) systems change leaders, she founded the well • change atelier in 2023 to make art-based processes and tools to cultivate connection, creativity, and well-being available to more people, and is an outspoken advocate for mental health.

https://www.norawilhelm.org
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